Pyramide oder Eisberg?

Es sind Fragen wie diese, die einem das Leben manchmal schwer machen können: Wie gehe ich vor, so daß in absehbarer Zeit ein brauchbares Ergebnis zur Verfügung steht?

Der Berg

Der Berg ist – aus Sicht des Arbeitsaufwandes – Gott-sei-Dank nicht so groß, wie ursprünglich mal überliefert worden ist. Laut der vorhandenen Registratur liegen ungefähr 1800 Kleinbild-Schwarzweiss-Negativfilme vor. Nicht gezählt sind die Mittelformatfilme, die Farbnegativfilme und die Diapositivfilme. Im jetzigen Fokus sind ausschließlich die Kleinbild-Schwarzweiß-Negativfilme. Da alle Filme 36 Bilder enthalten, umfasst dieser Teil des Bestand insgesamt 64.800 Aufnahmen.

Einscannen

Ursprünglicher Gedanke war die Filme aus den alten Hüllen herauszunehmen und sie mit best-möglicher Auflösung und Dichte einzuscannen und dann in neue opake Papierhüllen für die Ewigkeit abzulegen. Um sie nur einmal anzufassen und so nicht weiteren potentiellen Beschädigungen auszusetzen.

Der verwendete Scanner wird auch im kommerziellen Bereich zur Digitalisierung von Negativen eingesetzt. Er gehört mit zu den schnellsten seiner Klasse. Diese frohe Botschaft bezieht sich aber auf den Vergleich mit anderen Scannern, und nicht auf die Geduld, die man als Mensch beim Digitalisieren aufbringen muss.

Derzeit liegt die Scanzeit für einen Negativfilm (6 Streifen à 6 Bilder) bei 30-40 Minuten. Es lassen sich vermutlich noch ein paar Minuten einsparen. Allerdings lässt sich nicht jeder Film im automatisierten Stapelbetrieb einlesen. Insbesondere die früheren Filme weisen – kamerabedingt – unterschiedliche Abstände zwischen den Bildern innerhalb eines Filmes auf. Dann muss man Einstellungen ändern und so quasi per Hand nachjustieren, damit das Negativbild richtig abgelichtet werden kann. Das kostet Zeit. Nach dem Einscannen, werden die Bilder in mein Bearbeitungstool (Adobe Lightroom) importiert und zusätzlich in Excel erfasst. Derzeit kalkuliere ich daher mit einer Stunde Beschäftigung pro Film für die digitale Bereitstellung. Das sind 1800 Stunden. Das deutet schon mal auf eine ausfüllende Rentnerbeschäftigung hin. Wenn ich also (noch in voller beruflicher Beschäftigung) im Schnitt zwei Filme pro Tag schaffe, bin ich zweieinhalb Jahre damit beschäftigt. (Die Alternative die Filme kommerziell einscannen zu lassen, ist mir zu teuer.)

Kontaktabzüge

Eine andere Möglichkeit ist die Filme in Klarsichthüllen umzupacken und dann davon jeweils digitale Kontaktabzüge zumachen. So kann man zwar nicht die einzelnen Bilder verwenden, aber den Bestand schon mal inhaltlich erschließen. Nach einem Hinweis im Netz habe ich mir eine LED-Leuchtplatte um Glassplatten erweitert, zwischen die die Hüllen gelegt werden und das ganze mit meiner Kamera getestet. Es geht. Der grösste Zeitaufwand ist dabei das Herausnehmen der Filme der aus der alten Hülle und sie in die neue schieben. Weniger Zeit benötigt es die Hülle auf den Leuchttisch zu legen und die Kamera auszulösen. Mit etwas Übung kommt man so wahrscheinlich an die 15-20 Filme pro Stunde heran, wenn man die gebotene Vorsicht dabei nicht unter den Tisch fallen lassen will. Dann dürften die Filme innerhalb von ca. 50 Tagen per Kontaktabzug erfasst sein. Außerdem kann man das Umlagern und abfotografieren voneinander trennen.

Vorrang und Nachrang

Ich habe mich entschlossen eine Mischung aus beidem zu machen. Ich teile dazu den Negativfilmbestand in zwei Bereiche auf: Filme mit Vorrang und Filme mit Nachrang. Die Vorrang-Filme werden komplett eingescannt und die Nachrang-Filme werden erstmal via Kontaktabzug erfasst und einzelne Bilder oder Streifen ggf. später nach Bedarf eingescannt. Was macht einen Film vorrangig? Vorrangig sind ganz einfach alle Filme, die Bilder enthalten, die bereits einmal veröffentlich worden sind und/oder auf Ausstellungen (202 Bilder) gezeigt wurden. Eine ganze Reihe von Bildern hat mein Vater zudem in einer sog. Negativregistratur gelistet. Ich habe zu diesem Zweck sowohl die veröffentlichten Bilder als auch die Ausstellungsbilder erfasst. Sie weisen eine hohe Deckung aus. Das war auch zu erwarten. Allerdings habe ich nur für ca. die Hälfte der Veröffentlichungen die entsprechenden Negativbilder anhand vorliegender Informationen ermitteln können. Die Ausstellungsbilder zuzuordnen war einfacher, weil die Negativnummer jeweils bei der aufgeklebten Bild-Beschreibung mit angegeben ist. Derzeit komme ich so auf knapp 200 Vorrangfilme. Das schien mir erst zu wenig. Also habe ich die registrierten Bilder den Filmen zugeordnet. Mit dem Ergebnis, das von den 1800 Filmen 1700 ein bis zwei Treffer haben. Das ist wieder zu viel.

Die Pyramide

Im Netz hatte ich neben dem wohlmeinenden Rat, man möge sich entscheiden: entweder Bilder einscannen oder eine Beziehung führen, beides ginge auf der Grund der jeweils notwendigen Aufwände nicht gleichzeitig, noch die Einschätzung gefunden, es würde rein statisch reichen nur jedes fünfte Bild einzuscannen.

Was bedeutet, daß 75% alle Bilder sich nicht lohnen digitalisiert zu werden. Das käme einem Eisberg nahe, dessen grösster Teil unter Wasser verborgen bleibt. Diese Einschätzung ist grundsätzlich nicht falsch. Mein Vater war zwar letztlich Amateur, aber sehr ambitioniert. Er hat nicht geknipst, sondern fotografiert. Er hat nicht spontan den aktuellen Moment fixiert, sondern sich um die fotografische Realisierung eines Motivs bemüht. Und dieses Bemühen bedeutet immer mehrere Aufnahmen von einem Motiv mit leichten Variationen zu machen. Ändern der Belichtungszeit. Oder der Blende. Ein Schritt zur Seite. Etwas in die Knie. Warten bis die Wolken die Sonne wieder freigeben. Feststellen, daß das Licht nicht mehr reicht. Und am nächsten Tag oder wenn sich die Gelegenheit ergibt, wieder kommen. Danach Filme entwickelt (er hatte in der Regel immer zwei Kameras dabei gehabt mit unterschiedlich empfindlichen Filmen) und Abzüge gemacht, und festgestellt, daß nur ein, zwei Bilder der eigenen Vorstellung entsprachen. Und diese nochmals in der Dunkelkammer neu variiert in Ausschnitt und Belichtung vergrössert.
Der fotografische Prozess war eben erst dann erfolgreich zu Ende gebracht, wenn das erste zufriedenstellende Positiv zum Trocken an den Kacheln des Badezimmers klebte. Zum Schluß dann die Schere und der Retuschierstift. Und als Krönung das OK meiner Mutter.

Am Ende steht somit das zum Bild gewordene wahrgenommene und gedachte Motiv. Das hat eine Menge Zeit und Negative gekostet. 64.800 Negative/Aufnahmen sind daher keine 64.800 verschiedenen Motive und gelungene Bilder.

Zurück zu den Zahlen. Um ein gutes Bild zu bekommen, sind somit mehrere Negative notwendig. Das Verhältnis 1 zu 5, ist nur ein Beispiel. Der Bestand enthält 200 Ausstellungsbilder. Also Bilder, denen man unterstellen kann öffentlich betrachtenswert zu sein. Sei es, weil sie gut gestaltet sind und/oder etwas darstellen und erzählen. Das gäbe ein Verhältnis von 1 zu 324. In dieser Rechnung sind allerdings Familienbilder nicht berücksichtigt oder Auftragsarbeiten, die mein Vater für die Firma, in der er damals beschäftigt war, zum Beispiel im Rahmen von Berichten gemacht hat, usw. Es gibt eine breite Masse von Bildern, die zwar nicht Ausstellungsbilder sind, aber die doch von dokumentarischem Interesse sein können. Aber es sind eben auch alle Negative darin, die aufgrund vorhandener besserer Varianten, eigentlich nicht eingescannt werden bräuchten. Nur weiß keiner, welche das sind. Man sieht es den Negativfilmen von außen nicht an. Und die Negative vorher einzeln auf der Leuchtplatte zu beurteilen, um zum Beispiel aus einer Serie das vermeintlich beste herauszusuchen, traue ich mir nicht zu. Das geht eben besser, wenn die Bilder eingescannt sind. Außerdem wäre das wieder eine serielle Vorgehensweise. Und das ist die Variante, die Jahre dauert.

Vereinfachend betrachtet, bilden die Veröffentlichungs- und Ausstellungsbilder den Schlußstein einer Pyramide. In den Etagen darunter sind alle Bilder, die die unterschiedlichsten Interessen bedienen können. Und darunter bleiben alle anderen Negative. Ich versuche also die Pyramide von oben abzuarbeiten und sie neu in der digitalen Welt wieder aufzubauen.

Ein Gedanke zu „Pyramide oder Eisberg?

  1. Hallo Schuschu,
    nun bin ich einigermaßen überrascht, aber sehr froh, dich gefunden zu haben.
    Was für eine umfangreiche Arbeit diese wunderbaren Fotos deines Vaters zu archivieren und allen zugänglich zu machen. Respekt!
    Herzlich, Hilke

Kommentare sind geschlossen.